In
meiner Kindheit standen nicht wie heute die Schokoladenmänner
und Marzipanbrote schon im Oktober in den Schaufenstern, und selbst
im November glitzerten noch kein Lametta und keine Goldsterne in
den Läden. Die Weihnachtszeit begann erst im Dezember.
Am
1. Advent fingen wir Kinder mit unseren Weihnachtsarbeiten an. Hinter
Büchern verschanzt, damit kein Unbefugter sah, was wir bastelten,
saßen wir am großen Kinderzimmertisch und sägten
und klebten und stickten und nähten und aßen dabei Pfeffernüsse,
bis wir einen ganz faden Geschmack im Munde hatten. Wenn gerade
kein Erwachsener in der Nähe war, kokelten wir mit Kerze und
Tannenzweigen (was natürlich verboten war), um Weihnachtsduft
ins Zimmer zu bringen.
Wir
hatten furchtbar viele Verwandte und Bekannte zu beschenken. Gekaufte
Gaben waren verpönt. Manchmal lieferten wir beinahe fabrikmäßig
- je nach Alter und Können - Buchzeichen, Garnwickel, Schlüsselbrettchen
oder Deckchen. In einem Jahr prunkten wir sogar mit Seidenmalerei.
Eine Freundin unserer Großmutter, Fräulein von Rappard,
hatte uns das beigebracht. Mit Plätzchen und Schokolade - nicht
etwa gewöhnlichen Kakao - und Geschichten aus ihrer Jugend
zur „Kaiserzeit lockte sie sogar Bruder Günther, der
„Weiberarbeiten doof fand, in ihr Altdamenstübchen. Ich
durfte meine Freundin Lotte mitbringen. Dafür luden wir Fräulein
von Rappard dann zu unserer Weihnachtsaufführung ein. Ihr würdet
euch heute krank lachen über den selbstgedichteten Schmuß
vom „Prinzeßchen, das arme Kinder beschenkt", dem Weihnachtsmann
und den Engelchen, die „zum Fenster herein schwebten, das
heißt, Sie sprangen mit wenig Grazie und großem Krach
vom Fensterbrett.
Aber
dem Beifall nach waren unsere Zuschauer sehr beeindruckt. Regie
führte Erna, unser zwergwüchsiges Kindermädchen.
Gewöhnlich ließ Sie ihre Minderwertigkeitsgefühle
gern an uns, vor allem aber an Irmi, der Jüngsten aus. Aber
für die leitende Rolle war Sie sehr geeignet. Außerdem
sorgte Sie für die Kostüme und die Räumarbeiten im
Kinderzimmer, das in Zuschauerraum und Bühne umgewandelt werden
mußte. Ein weiterer Höhepunkt der Vorweihnachtszeit war
das Moossuchen für die Krippe. Mit Körben zogen wir in
die Ludwigsklamm; dort kannten wir schon die Stellen, wo die schönsten
Moospolster wuchsen. In manchen Jahren mußten wir Sie unterm
Schnee hervorbuddeln.
Zwei
Tage vor dem Fest wurden die drei Eßzimmertüren abgeschlossen,
weil dort das „Christkindchen am Werk war, und wir aßen
in Vaters Zimmer zu Mittag. „Wer durchs Schlüsselloch guckt,
dem pustet das Christkind die Augen aus, drohte Mariechen,
unsere Hausgehilfin („Dienstmädchen sagte man damals
- bis zu ihrem Tode waren wir mit ihr freundschaftlich verbunden).
Unsere Mutter schüttelte ärgerlich den Kopf, wenn Sie
solche Worte hörte. Die Drohung hätte höchstens Irmi,
die damals vier Jahre alt war, abgeschreckt und die reichte sowieso
nicht ans Schlüsselloch heran. Wir Großen belagerten
immer wieder die Türen, um heimlich etwas von der Weihnachtspracht
zu erhaschen. Einmal, als niemand in der Nähe war, bemerkte
ich, daß der Schlüssel steckte. Da konnte ich nicht widerstehen
und schloß auf. Was ich da sah, machte mich vor Freude ganz
taumelig: Auf meinem Tischchen saß ein Puppenjunge mit Schlafaugen
und echten Locken, genau, wie ich ihn mir sehnlichst gewünscht
hatte. Ich nahm ihn sofort in den Arm. In dem Moment hörte
ich Schritte. Schleunigst setzte ich ihn zurück, machte die
Tür zu und tat recht harmlos, als meine Mutter ins Zimmer trat.
- „Du warst doch nicht etwa im Weihnachtszimmer? sagte Sie.
- „Ich -- nö --, das kann ich doch gar nicht, das Zimmer
ist doch abgeschlossen, schwindelte ich und kam mir sehr schlau
vor. Und als Sie dann ernsthaft ihre Frage wiederholte, leugnete
ich standhaft.
Es
wurde das schlimmste Fest, an das ich mich erinnere. Als wir nämlich
am Heiligen Abend zur Bescherung gingen, lagen auf meinem Platz
allerlei Geschenke, aber kein Puppenjunge. Ich war tief enttäuscht
und durfte es mir doch nicht anmerken lassen, mußte strahlen
und so tun, als würde ich mich schrecklich freuen. Erst am
nächsten Tag war ich wieder glücklich. Da stand nämlich
der Puppenjunge unterm Weihnachtsbaum bei den Großeltern.
Am
Heiligen Abend hatten wir bis zum letzten Augenblick zu tun. Ich
wurde nie pünktlich fertig und stand meist noch im Unterrock
da, wenn unser Vater zum Aufbruch zum gemeinsamen Kirchgang rief.
Von der Predigt verstanden wir wenig, wir waren auch viel zu ungeduldig,
um zuzuhören, aber die großen Tannenbäume mit den
flackernden Wachskerzen und das Orgelspiel machten unvergeßlichen
Eindruck. Nur einmal, als ich mich bemühte, hinzuhören,
was der Pastor sagte, bekam ich einen Schrecken: Er betonte, daß
nicht die Geschenke den Sinn des Festes ausmachten. Ich war ganz
entsetzt und fürchtete schon, es würde künftig höchstens
einen Baum und nichts weiter geben. Nur der Gedanke, daß jedenfalls
diesmal schon alles vorbereitet war, tröstete mich. Im nächsten
Jahr würde meine Mutter die Worte des Pastors sicher wieder
vergessen haben.
Zu
Hause versammelte sich dann die große Familie, Eltern, Kinder,
Großeltern, Tante Ännchen (eine Cousine meiner Großmutter),
Onkel Felix (Schuchard, Vetter meiner Großmutter Erbslöh),
die Mädchen Marie und Mariechen im Biedermeierzimmer, und wir
sangen ein Weihnachtslied. Ich muß gestehen, es war kein musikalischer
Genuß. Bis auf Tante Else war keiner stimmbegabt in der Runde.
Nur Marie (das Mädchen der Großeltern, Cousine und Patentante
von Mariechen) und Mariechen hielten die Stimme. Dann öffnete
sich die Flügeltür und wir schritten ins Weihnachtszimmer,
die Jüngsten voran, paarweise folgten die Erwachsenen. Bevor
wir zu den Geschenktischen gingen, wurde der Weihnachtsbaum bewundert.
Er war mit bunten Kugeln geschmückt und reichte bis zur Decke
des hohen Zimmers. Vor ihm war die Krippe aufgebaut, die Figuren
standen immer am gleichen Platz, auf den Stufen, die zum Stall führten,
brannten Kerzen und wurden zur Gefahr für die Wachsengelchen,
die in ihrer Nähe schwebten. Eins von uns Geschwistern sagte
die Weihnachtsgeschichte auf, während die anderen wenig andächtig
zum Knusperhäuschen schielten, das in ihrem Blickfeld lag.
Eine
Kehrtwendung zu den Geschenktischen wagten wir nicht. Die Schönheit
des Lukas-Evangeliums ist mir erst viel später aufgegangen,
zu einer Zeit, als die Geschenke zwar größer waren, aber
nicht mehr so im Vordergrund standen. Dann endlich ging es zu den
Tischen. Wir Kinder hatten jeder seinen eigenen, niedrigen, der
aus einem auf zwei Stühle gelegtes Brett bestand, das mit einem
tannengeschmückten weißen Tuch bedeckt war.
Das
gemeinsame Abendessen in Mutters Zimmer betrachteten wir als höchst
unliebsame Unterbrechung unserer Freuden. Das konnte auch der verheißungsvolle
Menüname „Prinzeßkartoffeln, Kalbsbrieschen und Weincreme
nicht ändern. Den Erwachsenen hingegen schien das Essen wichtiger
zu sein als die Geschenke. Es zog sich - wie uns schien - unendlich
in die Länge. Nachdem die Mädchen abgeräumt hatten
- unterstützt von Frau Groß, die mit ihrer Familie im
Keller eine Wohnung hatte - nahm man im Kreis Platz und es ging
an das Paketeauspacken. Die handwerklich begabten Appeliuskinder
aus Düsseldorf stellten unsere „Kunstwerke jedesmal weit
in den Schatten - nicht gerade zu unserer Begeisterung. Helle Begeisterung
rief dagegen Onkel Felix mit seinen Überraschungen hervor.
Aus einem großen schäbigen Rucksack, der schon viele
Auslandsreisen mitgemacht hatte, zauberte er wahre Wunderdinge hervor
- Sachen, die wir uns heimlich gewünscht hatten, für die
wir aber „eigentlich noch zu klein waren, die „zu teuer waren,
um in Betracht zu kommen oder Geschenke, an die wir nicht im Traum
gedacht hatten. Noch lange Jahre, wenn vom „Weihnachtsmann
die Rede war, erschien er uns in der Gestalt unseres Lieblingsonkels
Felix.
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