WEIHNACHTEN IN EISENACH
1930






MARIE-LUISE NISCHELWITZER, GEB. ERBSLÖH, 1990
WEIHNACHTEN IM HAUSE ERBSLÖH-APPELIUS ZU EISENACH

In meiner Kindheit standen nicht wie heute die Schokoladenmänner und Marzipanbrote schon im Oktober in den Schaufenstern, und selbst im November glitzerten noch kein Lametta und keine Goldsterne in den Läden. Die Weihnachtszeit begann erst im Dezember.

Am 1. Advent fingen wir Kinder mit unseren Weihnachtsarbeiten an. Hinter Büchern verschanzt, damit kein Unbefugter sah, was wir bastelten, saßen wir am großen Kinderzimmertisch und sägten und klebten und stickten und nähten und aßen dabei Pfeffernüsse, bis wir einen ganz faden Geschmack im Munde hatten. Wenn gerade kein Erwachsener in der Nähe war, kokelten wir mit Kerze und Tannenzweigen (was natürlich verboten war), um Weihnachtsduft ins Zimmer zu bringen.

Wir hatten furchtbar viele Verwandte und Bekannte zu beschenken. Gekaufte Gaben waren verpönt. Manchmal lieferten wir beinahe fabrikmäßig - je nach Alter und Können - Buchzeichen, Garnwickel, Schlüsselbrettchen oder Deckchen. In einem Jahr prunkten wir sogar mit Seidenmalerei. Eine Freundin unserer Großmutter, Fräulein von Rappard, hatte uns das beigebracht. Mit Plätzchen und Schokolade - nicht etwa gewöhnlichen Kakao - und Geschichten aus ihrer Jugend zur „Kaiserzeit“ lockte sie sogar Bruder Günther, der „Weiberarbeiten doof“ fand, in ihr Altdamenstübchen. Ich durfte meine Freundin Lotte mitbringen. Dafür luden wir Fräulein von Rappard dann zu unserer Weihnachtsaufführung ein. Ihr würdet euch heute krank lachen über den selbstgedichteten Schmuß vom „Prinzeßchen, das arme Kinder beschenkt", dem Weihnachtsmann und den Engelchen, die „zum Fenster herein schwebten“, das heißt, Sie sprangen mit wenig Grazie und großem Krach vom Fensterbrett.

Aber dem Beifall nach waren unsere Zuschauer sehr beeindruckt. Regie führte Erna, unser zwergwüchsiges Kindermädchen. Gewöhnlich ließ Sie ihre Minderwertigkeitsgefühle gern an uns, vor allem aber an Irmi, der Jüngsten aus. Aber für die leitende Rolle war Sie sehr geeignet. Außerdem sorgte Sie für die Kostüme und die Räumarbeiten im Kinderzimmer, das in Zuschauerraum und Bühne umgewandelt werden mußte. Ein weiterer Höhepunkt der Vorweihnachtszeit war das Moossuchen für die Krippe. Mit Körben zogen wir in die Ludwigsklamm; dort kannten wir schon die Stellen, wo die schönsten Moospolster wuchsen. In manchen Jahren mußten wir Sie unterm Schnee hervorbuddeln.

Zwei Tage vor dem Fest wurden die drei Eßzimmertüren abgeschlossen, weil dort das „Christkindchen“ am Werk war, und wir aßen in Vaters Zimmer zu Mittag. „Wer durchs Schlüsselloch guckt, dem pustet das Christkind die Augen aus“, drohte Mariechen, unsere Hausgehilfin („Dienstmädchen“ sagte man damals - bis zu ihrem Tode waren wir mit ihr freundschaftlich verbunden). Unsere Mutter schüttelte ärgerlich den Kopf, wenn Sie solche Worte hörte. Die Drohung hätte höchstens Irmi, die damals vier Jahre alt war, abgeschreckt und die reichte sowieso nicht ans Schlüsselloch heran. Wir Großen belagerten immer wieder die Türen, um heimlich etwas von der Weihnachtspracht zu erhaschen. Einmal, als niemand in der Nähe war, bemerkte ich, daß der Schlüssel steckte. Da konnte ich nicht widerstehen und schloß auf. Was ich da sah, machte mich vor Freude ganz taumelig: Auf meinem Tischchen saß ein Puppenjunge mit Schlafaugen und echten Locken, genau, wie ich ihn mir sehnlichst gewünscht hatte. Ich nahm ihn sofort in den Arm. In dem Moment hörte ich Schritte. Schleunigst setzte ich ihn zurück, machte die Tür zu und tat recht harmlos, als meine Mutter ins Zimmer trat. - „Du warst doch nicht etwa im Weihnachtszimmer?“ sagte Sie. - „Ich -- nö --, das kann ich doch gar nicht, das Zimmer ist doch abgeschlossen“, schwindelte ich und kam mir sehr schlau vor. Und als Sie dann ernsthaft ihre Frage wiederholte, leugnete ich standhaft.

Es wurde das schlimmste Fest, an das ich mich erinnere. Als wir nämlich am Heiligen Abend zur Bescherung gingen, lagen auf meinem Platz allerlei Geschenke, aber kein Puppenjunge. Ich war tief enttäuscht und durfte es mir doch nicht anmerken lassen, mußte strahlen und so tun, als würde ich mich schrecklich freuen. Erst am nächsten Tag war ich wieder glücklich. Da stand nämlich der Puppenjunge unterm Weihnachtsbaum bei den Großeltern.

Am Heiligen Abend hatten wir bis zum letzten Augenblick zu tun. Ich wurde nie pünktlich fertig und stand meist noch im Unterrock da, wenn unser Vater zum Aufbruch zum gemeinsamen Kirchgang rief. Von der Predigt verstanden wir wenig, wir waren auch viel zu ungeduldig, um zuzuhören, aber die großen Tannenbäume mit den flackernden Wachskerzen und das Orgelspiel machten unvergeßlichen Eindruck. Nur einmal, als ich mich bemühte, hinzuhören, was der Pastor sagte, bekam ich einen Schrecken: Er betonte, daß nicht die Geschenke den Sinn des Festes ausmachten. Ich war ganz entsetzt und fürchtete schon, es würde künftig höchstens einen Baum und nichts weiter geben. Nur der Gedanke, daß jedenfalls diesmal schon alles vorbereitet war, tröstete mich. Im nächsten Jahr würde meine Mutter die Worte des Pastors sicher wieder vergessen haben.

Zu Hause versammelte sich dann die große Familie, Eltern, Kinder, Großeltern, Tante Ännchen (eine Cousine meiner Großmutter), Onkel Felix (Schuchard, Vetter meiner Großmutter Erbslöh), die Mädchen Marie und Mariechen im Biedermeierzimmer, und wir sangen ein Weihnachtslied. Ich muß gestehen, es war kein musikalischer Genuß. Bis auf Tante Else war keiner stimmbegabt in der Runde. Nur Marie (das Mädchen der Großeltern, Cousine und Patentante von Mariechen) und Mariechen hielten die Stimme. Dann öffnete sich die Flügeltür und wir schritten ins Weihnachtszimmer, die Jüngsten voran, paarweise folgten die Erwachsenen. Bevor wir zu den Geschenktischen gingen, wurde der Weihnachtsbaum bewundert. Er war mit bunten Kugeln geschmückt und reichte bis zur Decke des hohen Zimmers. Vor ihm war die Krippe aufgebaut, die Figuren standen immer am gleichen Platz, auf den Stufen, die zum Stall führten, brannten Kerzen und wurden zur Gefahr für die Wachsengelchen, die in ihrer Nähe schwebten. Eins von uns Geschwistern sagte die Weihnachtsgeschichte auf, während die anderen wenig andächtig zum Knusperhäuschen schielten, das in ihrem Blickfeld lag.

Eine Kehrtwendung zu den Geschenktischen wagten wir nicht. Die Schönheit des Lukas-Evangeliums ist mir erst viel später aufgegangen, zu einer Zeit, als die Geschenke zwar größer waren, aber nicht mehr so im Vordergrund standen. Dann endlich ging es zu den Tischen. Wir Kinder hatten jeder seinen eigenen, niedrigen, der aus einem auf zwei Stühle gelegtes Brett bestand, das mit einem tannengeschmückten weißen Tuch bedeckt war.

Das gemeinsame Abendessen in Mutters Zimmer betrachteten wir als höchst unliebsame Unterbrechung unserer Freuden. Das konnte auch der verheißungsvolle Menüname „Prinzeßkartoffeln, Kalbsbrieschen und Weincreme“ nicht ändern. Den Erwachsenen hingegen schien das Essen wichtiger zu sein als die Geschenke. Es zog sich - wie uns schien - unendlich in die Länge. Nachdem die Mädchen abgeräumt hatten - unterstützt von Frau Groß, die mit ihrer Familie im Keller eine Wohnung hatte - nahm man im Kreis Platz und es ging an das Paketeauspacken. Die handwerklich begabten Appeliuskinder aus Düsseldorf stellten unsere „Kunstwerke“ jedesmal weit in den Schatten - nicht gerade zu unserer Begeisterung. Helle Begeisterung rief dagegen Onkel Felix mit seinen Überraschungen hervor. Aus einem großen schäbigen Rucksack, der schon viele Auslandsreisen mitgemacht hatte, zauberte er wahre Wunderdinge hervor - Sachen, die wir uns heimlich gewünscht hatten, für die wir aber „eigentlich noch zu klein“ waren, die „zu teuer waren“, um in Betracht zu kommen oder Geschenke, an die wir nicht im Traum gedacht hatten. Noch lange Jahre, wenn vom „Weihnachtsmann“ die Rede war, erschien er uns in der Gestalt unseres Lieblingsonkels Felix.

***


HEILIGABEND IN DER LUISENSTRASSE
 

Der erste Weihnachtsfeiertag begann für uns Kinder himmelfrüh. Während wir sonst morgens nicht aus dem Bette kamen, waren wir an diesem Tag oft schon um 7 Uhr putzmunter. Und das, obwohl wir am Heiligen Abend viel später als üblich ins Bett gekommen waren. Allerdings früher als die Erwachsenen, denn die wollten auch an diesem Tag noch ein bißchen „unter sich“ sein.

Leise schlüpften wir in unsere Hausschuhe - „Wau-wau-schuhe“ genannt - zogen unsere „Fräcke“ an - das waren rote Morgenmäntel - und schlichen ins Weihnachtszimmer, ganz leise, denn die Eltern wollten ausschlafen.

Im großen Eßzimmer duftete es herrlich nach Tanne, Lebkuchen und Apfelsinen. Zuerst klapperten wir, trotz unserer warmen Mäntel, ein bißchen vor Kälte, bis dann die Heizung angefeuert war.

Unser Großvater Appelius war ein sehr fortschrittlicher Mann. Er besaß nicht nur eins der ersten Autos in Eisenach, er ließ auch sehr bald die Öfen durch eine Zentralheizung ersetzen. Jeden Morgen kam ein Mann aus der Nachbarschaft und füllte den Heizungskessel im Keller mit Koks nach. Um diese Heizung wurden wir sehr beneidet. Vor allem im Winter 1928/29. Da war es so bitter kalt, daß in fast allen Häusern das Wasser eingefroren war. Die Nachbarn standen mit Eimern Schlange bei uns, um Wasser zu holen und um unser Klo zu benutzen.

Das hat mir so imponiert, daß es das Hauptthema im Schulaufsatz „Der Winter“ war. Mein Lehrer hat darunter geschrieben „Thema verfehlt“, aber mir trotzdem eine Eins gegeben. In diesem Winter trugen viele Leute Nasenschützer - das sah vielleicht komisch aus!

Sonst haben wir drei Geschwister uns viel gestritten, aber zu Weihnachten herrschte Frieden. Da waren wir alle großzügig. Günther ließ uns „Weiber“ am Kaufmannsladen tüchtig einkaufen - sogar mit Selbstbedienung. Dafür durfte er mit ins Puppenhaus. Das war ganz primitiv, aber so groß, daß man hineingehen konnte. Stühle, ein Tischchen, Puppenbetten und natürlich sämtliche Puppen fanden darin Platz.

Jeder hatte einen Teller mit Süßigkeiten auf seinem Geschenktisch stehen, aber viel reizvoller waren natürlich die Schokoladenkringel am Weihnachtsbaum. Eigentlich wurde der Baum erst am 6. Januar, kurz vor dem Abräumen, zum Plündern freigegeben. Aber in jedem Jahr, wenn es soweit war, stellte unser Vater mit gespieltem Erstaunen fest: „Es hing doch diesmal besonders viel am Baum, und jetzt finde ich nur noch ganz oben ein paar armselige Kringel!“

In der Mitte des Zimmers stand ein langer weißgedeckter Tisch mit den Geschenken der Erwachsenen. Natürlich besichtigten wir auch ausgiebig diese Sachen. Die vielen Alpenveilchen in der Mitte sahen ja recht hübsch aus, aber die meisten Sachen fanden wir doof bis auf die Geschenke, die wir selbst fabriziert hatten! Da gab es viele Flaschen, Deckchen und Kissen und seltsame Büchsen mit merkwürdigen Inschriften. Auf einer stand „Neunaugen", das war eine besondere Art von eingelegten Fischen. Einmal stand auf Vaters und Mutters Platz genau das gleiche Kaffeeservice. Das hatten Sie sich gegenseitig geschenkt, ohne es voneinander zu wissen.

Um halb Zehn gab es gemeinsames Frühstück, unser Vater legte großen Wert auf Pünktlichkeit. Danach kamen unsere Freunde und Freundinnen, um unsere Geschenke zu bewundern und zum Spielen.

Das Mittagessen fand im „Oberhaus“ bei den Großeltern Appelius statt. Da gab es traditionsgemäß Gänsebraten, Rotkraut und Thüringer Klöße. Günther und Tante Else leisteten beim Kloßessen das meiste. Es war direkt ein Wettbewerb, und wir waren immer wieder verblüfft, wie die superschlanke Tante Else drei kindskopfgroße Klöße schaffte.

Vor dem Essen waren wir jedesmal eindringlich ermahnt worden, uns wenigstens diesmal ordentlich zu benehmen. In punkto schlechter Manieren kannte Opa keine Gnade, und er war auch für seine Tochter, unsere Mutter noch Respektsperson. Sie setzte sich darum uns gegenüber, um uns mit strengen Blicken zu dirigieren. Wir machten uns dann einen Spaß daraus, Sie zu blamieren. Wenn Sie gerade den Kopf schüttelte, ein mahnendes Gesicht zog, sagte Günther vernehmlich: „Warum guckst du nur so komisch, Mutti?" Oder: „Wer hat denn so lange Beine und tritt mich dauernd!“

Aber auch das langweiligste Essen geht vorüber. Und nun folgte das schönste: Es gab noch einmal eine Kinderbescherung. Jedes Kind bekam ein Geschenk, oft etwas zum Anziehen. Oma Röschen war eine unermüdliche Strickerin und beglückte uns mit Jacken, Westen, Pullover und Strümpfen, die zwar gut wärmten aber elend kratzten. Sie wurden mit einem Gummiband am „Leibchen“ angebracht, denn die Mädchen trugen damals höchstens zum Skilaufen lange Hosen. Der schönste Baum, die besten Geschenke waren aber nichts gegen die Puppenküche und das Puppenhaus mit Zimmern, Küche und einer kleinen Familie, die in diesem Haus wohnte. Das Puppenhaus hatte schon der Großmutter gehört. Und in jedem Jahr durften wir in den Weihnachtstagen damit spielen. Danach verschwand das Puppenhaus ebenso wie die Puppenküche wohlverborgen auf dem Boden. So war es für uns immer wieder etwas Neues, ganz Besonderes. Nicht nur für uns Kinder. Tante Hanna, Tante Else und Tante Trude, eine Appelius-Verwandte aus Kassel, spielten mit wachsender Begeisterung mit.

Besonders beliebt war das Puppendienstmädchen „O Donna Clara“ (so hieß damals ein Schlager), die abends heimlich ihren „Schatz" ins Haus ließ. Daraufhin folgte ein Ehekrach zwischen Puppenmama und Papa. Und unsere Tanten konnten vor Lachen oft nicht weiterspielen. Wir lachten aus vollem Halse mit, wenn uns auch nicht recht klar war, warum und worüber.

Den Abschluß des Tages bildete das Kochen in der Puppenküche. Mit einem Spirituskocher wurde der kleine Herd beheizt. Es dauerte eine Ewigkeit, bis das Wasser für die Suppe kochte. Das Menü stand fest: Es gab Sternchennudeln, winzige Fleischklößchen und hinterher Pudding (der meist anbrannte). Auf winzigen Tellerchen wurde serviert, mit Puppenbestecken gegessen. Selten hat uns etwas so gut geschmeckt, wie das selbstgekochte Essen am ersten Weihnachtsfeiertag.

DER ERSTE FEIERTAG
 

© 2011 ANDREAS ERBSLÖH